Kapitel Eins

Die Verhältnisse im Hause Felseck sind schwierig, es gibt oft Streit. Der Vater verbringt mehr Zeit mit seinen Freunden als daheim. Er trinkt und neigt zur Gewalt. [1878]

Tief und rein drangen sechs metallene Schläge durch eine halbgeöffnete Tür und verebbten in einem, zum Teil in Halbdunkel getauchten Raume.

Von einer Ecke her, in der ein schwarzer Herd stand, schwang sich leises Summen in die herrschende Stille. Das gelbglänzende Wasserschiff warf schwache Lichtreflexe gegen die Decke und seitlich auf den naturfarben gestrichenen Küchenschrank, während daneben auf der Stellage der Anrichte zwei Reihen weißer Töpfe und Kannen schimmerten.

Ein kurzer Schatten, dessen Ränder verstrichen waren, fiel vom Fenster her auf die blanken Dielen. Er kam von einer schlanken Frauengestalt, die, beide Hände auf den Fenstergriff ineinander verschränkend, mit darauf gestütztem Kinn regungslos in ihrer Stellung verharrte.

Kölner Dom, Ansicht vom Nord-Westen mit der alten Dompropstei (Aufnahme ca. 1880); Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin, Inv. Nr. F 8298 (online)

Weit im Westen stand die Sonne über den Dächern. Ein glutweiß schimmernder, vibrierender Ball, verhüllte sie sich mit einer dünnen Wolkenschicht, durch deren milde Abblendung man das Wogen des Flammenmeeres gewahrte. Wie straffgespannte Schleier senkten sich breite Strahlenbahnen schräg gegen die Hauswände und spiegelten in der Straße.

Durch das Strauchwerk des schmalen Vorgartens waren die zum Teil ungeputzten dreistöckigen gegenüberliegenden Häuser sichtbar.

Zahlreiche Männer, die zumeist blaue Leinenanzüge trugen, und vereinzelte Frauen belebten die Bürgersteige. Einige traten in die Hauseingänge.

Bald lag die Straße scheinbar verlassen. Die Frau am Fenster wandte sich, unruhig die Hände reibend, zum Innern der Küche. Sie war eine stattliche Erscheinung. Mit der wohlgeformten Gestalt, dem abgerundeten Gesicht und den braunen Augen unter dem wellig gescheitelten Haar hätte sie als hübsch gelten können. Doch gaben ihr die kurzen, zusammengepressten Lippen einen allzu harten Zug. So wirkte sie, besonders durch ihre stolze Haltung, absolut unnahbar, lebhaft an eine Gouvernante erinnernd.

Mathilde Felseck zürnte dem Schicksal. Kaum dem Kindesalter entwachsen, kam sie in das Waisenhaus, aus dem sie mit neunzehn Jahren entlief. Als sie von Lorenz Felseck, dem schönen, stattlichen Menschen und Teilnehmer des siegreichen Feldzuges[1], heimgeführt wurde, erschien ihr das Leben wunschlos schön. Doch bald trat eine Trübung ein. Der Gatte war mit seinem Los unzufrieden. Gewiss mit Recht, aber sie empfand es als schwere Kränkung, dass er sie unverdient in Mitleidenschaft zog. Er trank und widmete sich mehr seinen Freunden als ihr. Heute hatte er fest versprochen, nach Feierabend gleich nach Hause zu kommen.

„Ich will aufstehen, Mama!“, meldete sich aus dem Nebenzimmer eine quäkende Stimme. „Ja Heinchen! Du musst aber noch warten, bis der Papa gegessen hat!“, rief sie zurück. – Das Kind war ja im Recht; doch stand des Vaters verdientes Recht höher. Da der Junge wieder rief, sagte sie mit harter Stimme: „Er will beim Essen Ruhe haben!“

Groll stieg in ihr auf. Sie war ja nur noch die Köchin ihres Mannes. Wodurch hatte sie das verdient? Seine Eltern selbst hatten sie doch eingeladen, mit ihrem Sohn Lorenz einmal auszugehen. Und war sie auch Waise, so erlaubte doch ihr Teil am Nachlass der Eltern die wichtigsten Anschaffungen. „Gewiss habe ich ihn sehr gern“, gestand sich Mathilde, „aber dazu bin ich mir zu schade.“ Die letzten Jahre zogen wie im Fluge an ihr vorbei. Das Bangen um die Männer im Felde, der ekstatisch umjubelte Einzug der Sieger durch das Eifeler Tor und die glückhaften ersten Jahre der Ehe.

Steif wie unter einer schweren Last erhob sich Mathilde; trotzig kräuselten sich die Lippen. „Mag er bleiben, wo er ist“, murrte sie vor sich hin, schob den Tisch vor die Tür und beschwerte ihn mit einigen Kästen.

Draußen schlug die Haustür zu. „Mach auf!“, ließ sich eine gemütliche Männerstimme vernehmen, und beim Aufblicken bemerkte Mathilde, dass die Klinke der Küchentür sich fortgesetzt auf- und abwärts bewegte. Spannung trat in ihre Züge, in verhaltener Wut lehnte sie sich gegen die Anrichte. „Frau mach doch auf. Mach auf, mein Engel!“, erinnerte sie die Stimme einmal.

Mathildes Gesicht verzog sich zu einem resignierten Grinsen. Wie schön war früher der Abend, aber nun durfte sie ihn ja nicht einlassen, sonst würde er nicht zur Selbstbesinnung kommen. „Bleib bei Deinen Saufkumpanen!“, rief sie hart.

Gleichzeitig mit einem unterdrückten Aufschrei Mathildes gellte Heinchens Stimme.

Wie konnte er so roh sein, dies ohne Weiteres zu tun? Dass der Schreck sie auf einen Moment schwach machen konnte, erzürnte sie. Entschlossen, ihn nicht herein zu lassen, stemmte sie sich gegen den Tisch: „Bleib da!“ Doch die Barrikade schob sich langsam vor.

Ein großer Mann zeigte sich im Türspalt. „Guten Tag“, sagte er freundlich, dann blickte er sich um: „So etwas macht man doch nicht!“

Nur das abgeschwächte Licht, das die Glocke der auf der Anrichte stehenden Petroleumlampe abgab, fiel auf sein Gesicht, welches eine gesunde Röte zierte. Es war durch einen starken, rotblonden Schnurrbart verschönert, der das blühende Aussehen des außerordentlich kräftigen Mannes, der an dreißig Lenze zählen mochte, stark unterstrich.

Aus dem Nebenzimmer torkelte, nur mit einem Unterhöschen bekleidet, ein etwa dreieinhalbjähriger Junge herein. Die Ärmchen reichten fast bis an die Knie. Den Kopf mit dem etwas vorwitzigen Gesicht hielt er ein wenig vorgestreckt. – Das Brechen des Holzes und die harte Stimme der Mutter, so sagte er sich, mussten doch auf eine Unartigkeit des Vaters zurückzuführen sein. Und was für große Augen die Mutter machte, die so steif vor dem Schrank stand. Da musste er ihr wohl helfen. Das Köpfchen in den Nacken werfend, stellte er sich dicht vor Lorenz hin, hob beide Arme und rief: „DU!“, wobei er Lorenz mit den Fäustchen mehrmals gegen die Oberschenkel schlug.

„Jüngelchen!“, rief Mathilde, das Kind nun erst bemerkend. Lorenz aber nahm dessen linken Arm, zog es herum und versetzte ihm einen Fußtritt, worauf Mathilde ihm gleich nachstürzte und, es aufhebend, schrie: „Unmensch!“ Wie doch der Schnaps den Menschen dem Tiere nahe brachte, sodass er sein eigenes Kind wie einen Seilhaspel[2] wegtreten konnte!

Mathilde Weber (1854-1911), die Mutter von Heinrich Weber; Sammlung privat

Lorenz meinte trocken: „Ich habe ihn ja nur weggeschubst.“ Warum empfing Mathilde ihn auch so? Sie pflegte wohl öfter zu schimpfen, aber das da? Er sah sich noch einmal um. Das war ja so etwas wie Auflehnung! Sicher aber nur aus momentanem Eigensinn geboren. Ach, sonst war sie ja gut. Die Hände in die Hosentaschen steckend fragte er höflich: „Nun? Kriege ich etwas zu essen?” In Mathilde wallte wieder das eigene Leid auf. Was dachte er sich? Merkte er denn nicht, dass ihre Geduld zu Ende war? „Von mir nicht! Ich habe das letzte Mal stundenlang auf Dich gewartet und immer wieder das Essen aufgewärmt!“

Da schüttelte Lorenz den Kopf und wandte sich dem Herd zu, vermochte er doch die Berechtigung dieses Argumentes nicht anzuerkennen. „Unsinn”, meinte er ruhig: „Der Herd kocht allein.“ „Der Herd kocht alleine?“, wiederholte Mathilde, stellte Heinchen auf den Boden, nahm von der Topfbank einen Eimer und füllte Wasser hinein.

Zufrieden, dass die Differenz wohl beigelegt war, drückte er den Türrahmen zurecht. „Für eine Nacht wird es ja gehen.“ Sich umwendend, sah er Mathilde mit dem Eimer zum Herd gehen. „Kochst Du ein Tässchen Bohnenkaffee?“, fragte er.

Sie aber hob den Eimer auf die Herdplatte, schob den Suppentopf vom Loch und kippte das Wasser in die Glut: „So, nun kann der Herd kochen!“, rief sie wütend.

Ihre Stimme wurde fast verdrängt von der zischenden Säule Wasserdampf, die gegen die Decke schoss. Der flüchtig abgestellte Eimer fiel polternd um.

Heinchen saß unter dem Tisch. „Au! Hu!“ Mehr verwundert als ängstlich schlug er die Hände zusammen.

Maßlos erstaunt stemmte Lorenz die Arme in die Hüften, blickte fassungslos auf den Herd, aus dessen Feuerungstür dünne, Ruß und Asche tragende Bäche rannen. Außerstande, einen Gedanken zu fassen oder auch nur einen Ton der Verwunderung zu äußern, blieb er mit gespreizten Beinen in der Mitte der Küche stehen, sein Oberköper wiegte sich leicht. Lange stand er wie angewurzelt, ohne Gedanken, als Gesang ihn zum Geschehenen zurückrief. Aus dem Schlafzimmer die ersten Verse vom „Lied der Heldenbraut“[3]:

„O Liebchen weine nur nicht,
mich ruft die heil‘ge Pflicht,
was soll ich denn noch länger zagen,
wenn draußen sich die Feinde schlagen!
Weit fort von hier am deutschen Rhein,
dabei muss Dein Geliebter sein!“

Lorenz fühlte Wärme in seiner Brust, die langsam nach oben stieg. Doch bemerkte er, dass Mathilde die Verse, die der Liebe galten, lauter, fast krächzend sang. Wollte sie ihn verhöhnen? Das durfte er nicht dulden! Wie zum Sprung sich beugend, trat er einen halben Schritt vor, um besser zu hören.

Führungs-Attest Lorenz Weber (22.09.1872); Sammlung privat

Heinchen kam unter dem Tisch hervor, den Vater groß ansehend. Da dieser keine Notiz von ihm nahm, ging er, sich auf der Zimmergrenze noch einmal umsehend, zur Mutter in das dunkle Schlafgemach.

„Nun singt sie wieder sauber“, stellte Lorenz fest, „vielleicht gegen ihren eigenen Willen“. Er stöhnte, musste von einer Unruhe, gegen die er vergebens ankämpfte, getrieben auf und ab gehen.

Das Lied nötigte ihn, eine Bilanz zu ziehen. Nichts hatte das Leben bisher von dem gehalten, was es versprochen. Seine Mutter, geborene Krupp, war eine gar nicht sehr entfernte Verwandte des Kanonenkönigs. Man hätte doch von dieser Seite etwas Unterstützung haben können. Zwar hatte der Vater, aber aus eigener Kraft, auf den Festungswällen eine Seilerei erarbeitet, die in den besten Jahren fast hundert Gesellen beschäftigte. Doch nachdem die Mutter gestorben, ging das Geschäft zurück. Nach dem Feldzuge heiratete der Vater zum dritten Male, um sich nun ausschließlich dem Vergnügen hinzugeben, und das Geschäft sank zu absoluter Bedeutungslosigkeit hinab. Lorenz entzweite sich mit den Eltern bald nach der Verbindung mit Mathilde, wodurch er genötigt war, bei Von Bergmann[4] in Mühlberg[5] eine Meisterstelle anzunehmen. Der Zwang, seine vollkommenen Fähigkeiten einem Konkurrenten zur Verfügung stellen zu müssen, nagte sehr an ihm.

Mathildes Stimme klang nun traurig und etwas heiser; sie verschluckte manches Wort:

„Und kehr ich einst zurück,
o Liebchen, welch ein Glück!
Die Arme, die dich dann umschlingen,
die Freiheit halfen sie erringen.
Dann kannst du sagen stolz und laut:
Auch ich bin eines Helden Braut!“

„Sie kann ja nicht dafür“, konstatierte Lorenz. „Aber was will das schon heißen, wenn ich mal ein wenig meinen Ärger herunterspüle?!“ Schluchzen drang jetzt vom Nebenzimmer herein.

„Heinchen!”, rief Lorenz grob. Er besann sich darauf, dass er für den Kleinen eine Lakritzstange gekauft habe, und tastete schnell seine Taschen ab.

Heinchen musste husten, denn der Vater steckte ihm die dicke Stange zu tief in den Mund, die wie eine Kolbenstange mehrmals hinein- und wieder herausrutschte, wobei sich unter dem Näschen kleine Blasen bildeten. Er nahm kaum Notiz davon, dass der Vater, in das Schlafzimmer tretend, behutsam die Tür ins Schloss zog; hörte noch ein Geräusch, wie das eines umfallenden Stuhles, worauf es ganz still wurde.

* * *


[1] Gemeint ist hier der Deutsch-Französische Krieg von 1870 bis 1871.

[2] Auf einer Seilhaspel werden Seile aufgewickelt.

[3] „O Liebchen wein nur nicht“, Soldatenlied aus dem Deutsch-Französischen Krieg (1870 – 1871). Vgl. Volksliederarchiv (online; 21.04.2025).

[4] „Von Bergmann“ steht hier stellvertretend für die Firma Felten & Guilleaume in Köln-Mühlheim.

[5] „Mühlberg“ steht als Synonym für Mülheim. „Mülheim (Kölsch: Müllem) ist ein ursprünglich bergischer Stadtteil von Köln, der dem Bezirk Mülheim den Namen gegeben hat.“ 1914 erfolgte die Eingemeindung der Stadt Mülheim am Rhein nach Köln. Vgl. Mülheim (Köln), WIKIPEDIA (online; 21.04.2025).